Von Lebenschecklisten und Fünfjahreszielen

Marco Zander
7 min readDec 7, 2021

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Foto von Aaron Burden auf Unsplash

“Man kann leicht den Anschein gewinnen, dass Menschen meinen, wenn sie nur genug Punkte auf der Checkliste abhaken, wird sich das Glück schon irgendwie einstellen.” sagt Oswald. Er ist groß, etwa 1,90 m, hat einen schwarzen Bart, breite Schultern (ist ja auch grade Massephase), eine kleine Nase und, obwohl er mittlerweile 40 Jahre alt ist, leuchten die Augen manchmal noch wie bei einem kleinen Kind. Vor allem, wenn er von seiner Freundin… oder Eichhörnchen spricht. Er weiß, dass die von ihm beschriebene Lebensweise ein Gedanke ist, der auch mir immer sehr nahe lag. Immerhin besteht eine meiner mir durchaus lieben Tätigkeiten darin, den morgigen Tag zu planen, wobei eine Checkbox meist die einzelnen Stationen des Tages ausmacht. Eines der schöneren Exemplare eines solchen Tagesplans könnte in etwa so aussehen:

Auch unser heutiger Spaziergang stand auf einem Tagesplan. Und im Zuge dessen gehen wir weiter am Kleinhesseloher See entlang. Es ist ein ziemlich gewöhnlicher Tag: Herbst, die Blätter sind schon von den Bäumen gefallen. Es ist nicht kalt, nicht warm. Die Sonne scheint durch dicke Schwadenwolken hindurch und erinnert dabei an dieses vom Schleier umhüllte Emoji. Wir sprechen weiter über … nun … Ziele im Leben und damit verbundene Themen: NGOs zum Beispiel, meine Beziehung, Unternehmertum, meine Freundschaft mit Marika, Twitter, das und ein Philosophiestudium.

Zuhause denke ich darüber nach.

Worum es geht

Warum wollte ich irgendwann weder einerseits “die Lebenscheckliste” abarbeiten noch andererseits meine eigene Lebenscheckliste aufstellen und abarbeiten?

Das sind ja erstmal zwei sehr verschiedene Dinge. Positiver formuliert lebt man im ersten Fall ein bewährtes Modell, im zweiten Fall ein autonom gewähltes, dem Schicksal trotzendes Leben.

Warum also nicht mehr

Das, was Oswald die Lebenscheckliste nennt, ist das, was man halt macht und was auf ihn den Anschein hat, dass die Leute nach und nach abhaken, weil sie glauben, dass am Ende Glück wartet, obwohl das — so Oswald — “ja damit nicht wirklich zusammenhängt”: Es ist nur ein weiterer Faktor im Leben, mehr Verantwortung; “dass einen die Beziehung, die Karriere, der Hund, die Kinder aber wirklich glücklicher machen — das ist doch erstmal nicht gesagt. Manchmal klappt’s, manchmal nicht.”

Jetzt sitze ich zuhause: ein kleines Appartement, in dem ich mich wohlfühle. In ihm gibt es kaum etwas als ein Bett, einen Schreibtisch, ein kleines Bild von Moskau und ein Bücherregal mit meinen liebsten Büchern. Oben stehen meine allerliebsten Bücher und auch die äußeren Ränder der Buchreihen sind für besonders liebgewonnene Bücher vorgesehen. Ganz oben, rechts außen mit Blick auf mein Bett steht Kierkegaards ‘Entweder — Oder’, weil er mich so jeden Morgen und Abend begrüßt, verabschiedet, sich über mich, mein und das Leben amüsiert.

Den Schreibtisch findet Oswald “ein wenig drüber”. Na gut. Sonst wird anerkannt, dass das Appartement “so schon passt” — aus seinem Mund, in Bezug auf mein Appartement: ein Lob. Auf dem Schreibtisch steht im Sommer nur mein Laptop; im Herbst, Winter und lange in den Frühling hinein kommt eine sorgfältig ausgewählte, geruchlose Kerze dazu. Sie freut mich, ist sozusagen der Strauß Blumen meines Zimmers. Auch jetzt brennt sie, leuchtet warm ihrem Ende entgegen. Alles in allem ist das Appartement übersichtlich, lässt sich gut aufräumen.

Um auf einen grünen Zweig für meine Überlegungen zu kommen, erinnere ich mich, was Marika, Oswald und ich bisher sonst so im Dunstkreis von Fünfjahreszielen und Lebenschecklisten besprochen hatten.

Marika zu Anleitungen

Marika fühlt sich, wie ich, meist etwas verloren, manchmal auf eine positive, manchmal auf eine negative Weise. Und ich finde, das zeigt sich bei ihr am ehesten daran, dass sie meist ein wenig abwesend wirkt — als wäre sie eben eigentlich gerade in ihrer eigenen Welt, in die sie besser reinpasst als in diese, unsere, harsche, unsensible, viel zu oft scheinbar banale Welt. In vielerlei Hinsicht erinnert sie mich an das vom Schleier verhüllte Emoji von vorhin … oder an Patrick Rothfuss’ Auri.

Einmal fragte ich sie explizit nach einer unfertigen, rohen Nachricht und in der Nachricht, die dann kam, meinte sie, dass sie glaubt, dass Anleitungen sein Leben zu leben (‘Wie Stress im Leben reduzieren?’, ‘Wie Hund, wie Kinder erziehen?’, ‘Wie täglich mit meinem Partner connecten?’, wie Miracle-Morning, wie Sixpack, wie etc.) in verschiedenen Graden kommen:

  1. Ich denke, es ist richtig x zu tun, also mache ich es
  2. Ich denke, es ist richtig y zu tun, dafür muss ich x machen, also mache ich x
  3. Ich denke, es ist richtig z zu tun, dafür muss ich y machen und dafür muss ich x machen, also mache ich x

Usw.

Am Ende geht es immer nur darum, dass jemand es richtig gefunden hat x zu tun. Nicht x als Schritt zu y, als Schritt zu z, sondern jemand fand einfach x richtig, Ende. Wenn sie nun also so eine Anleitung schreiben sollte, dann bestände diese in der ganz einfachen Frage: ‘Was ist das x, das du richtig findest?’ Und außerdem der Empfehlung, möglichst keine höhergradigen Anleitungen zu verwenden; sich höchstens zu fragen, warum man diese Anleitung zu brauchen meint. Meist deuten die schon dahin, womit man sich eigentlich auseinandersetzen sollte. Das ‘Wie Stress im Leben zu reduzieren?’ zur Frage: ‘Warum habe ich eigentlich so viel Stress in meinem Leben?’, zum Beispiel.

Soweit also zu Anleitungen, das Leben richtig zu leben.

Oswald zu Fragebögen

Ein damit verbundenes Thema sind die Fragebögen, Fragebögen für alles und jeden: zur eigenen Seelenästhetik, zum Sich-verletzlich-Zeigen in einer Beziehung, zu Persönlichkeitstypen, zu Sternzeichenkompatibilitäten und in Menschen-matchenden Dating-Apps … und dazu, welche Menschen-matchende Dating-App denn nun für einen die richtige ist. Dazu meinte Oswald mal, dass die Fragenbögen meiner Generation, das Analysieren, Managen, Optimieren aller Lebensbereiche wie ein Business (‘Wie schaffe ich ein nachhaltiges Unternehmen?’, ‘Wie passe ich mein Outfit nun meiner Seelenästhetik an?’, ‘Wie entwickle ich einen securen Attachment-Style?’) auf ihn irgendwie “befremdlich” wirken — “was nicht heißen soll, dass es schlecht ist; vielleicht ist das auch einfach so ein Ding deiner Generation”.

Ein Quell neuer Anleitungen fürs Leben ist’s außerdem.

Und ich zu großen und kleinen Dingen im Leben

Und ich … ich meinte in einem unveröffentlichten Text mal: “dass die großen Momente im Leben für mich die kleinen, schnell verblassenden sind, die von denen zu berichten sich kaum lohnt. Die kleinen wiederum sind die großen. Es ist ein wenig, wie man es früher auch von dem Äußeren und dem Inneren sagte: Das Innere sei das Äußere und das Äußere das Innere. Mein Kleines ist das Große, mein Großes klein, kaum wahrnehmbar.”

Und neben Oswalds und Marikas Vermutungen enthält wohl auch meine Beschreibung Teile meiner Antwort, warum ich irgendwann den Gedanken meiner Tagespläne nicht mehr auf mein Leben erweiterten wollte. Immer dem Fünfjahresziel entgegenzuarbeiten würde bedeuten, einem dieser “großen Dinge” entgegenzuarbeiten, wobei es doch die kleinen Dinge sind, die für mich die großen sind. Und für die braucht es nicht viel. Primär ein wenig Zeit.

Also? Was heute?

Heute gestehe ich mir ein, dass ich nicht weiß, welches Ziel ich in fünf Jahren verfolge. Viele meiner high-performenden Bekannten, der Großteil meiner Familie und mein sich äußerst familiär gebender Arbeitgeber verstehen das nicht. Oswald findet diese Ehrlichkeit gut, zumindest solange ich nicht völlig abdrifte, “wozu du ja nicht die Tendenz hast” und solange ich mir meinen Lebensunterhalt noch irgendwie verdiene.

Das schaffe ich schon irgendwie.

Marika findet meine neuste Guideline, die ich zunächst vor ihr verstecken wollte, gut; denn sie unterstützt mich ja nur dabei, das x, das ich sowieso tun will, besser und mehr zu machen. “Da ist es nicht schlecht, auch solche Bücher zu verwenden.”, findet sie.

Und ich? Ich habe nichts gegen Ziele. Ich finde es super, wenn man welche hat, an die man glaubt. Sich allerdings beständig neue Ziele zu setzen, weil man ja Ziele haben muss, fühlt sich für mich etwas verkrampft, eben befremdlich an: Warum muss man sich sein Leben lang immer weiter Ziele in mittelbare Reichweite setzen, wie ein Esel, der sich selbst die Karotte vor die Nase hält, um immer weiter, vor allem aber weiterhin ja schnell genug zu laufen? Warum nicht einfach mal sitzenbleiben und den Wegesrand betrachten, liebes Esel-Ich?

Und bevor ich dann als altes, nutzloses, stures Tier geschlachtet werde, lauf ich davon und versuche doch noch zu machen, was sich richtig anfühlt: Kollektionen kleiner Momente zu schreiben, mit Oswald über irgendetwas … von Pop-Kultur, von der ich noch immer kaum eine Ahnung habe, bis Philosophie, die ich noch immer mag, … zu sprechen, Gedanken aufzuschreiben, mein Kierkegaard-Seminar zu besuchen, irgendwas über den Grund der Dinge zu lesen, Nachrichten an Marika zu schreiben und Antworten zu erhalten — all das fühlt sich im Großen und Ganzen richtig an.

Und, klar, noch immer ist es manchmal so, als wäre man zum Arbeiten für einige Monate in ein ziemlich kaltes, fremdes Land gegangen. Die meiste Zeit bringt man jetzt mit … nun Marketing zu … und das fühlt sich falsch an, aber dass man sich entschieden hat, in dieses Land zu gehen, das fühlt sich zwar noch etwas unwirklich, aber sehr richtig an und auch nicht so befremdlich, wie viele der Dinge aus dem Ort, von dem man kam. Hier gibt es viel Neues, ich fühle mich in mancher Hinsicht frei … von ein paar Mans und fürs Musizieren in der Stadt, einen Spaziergang am Wegesrand oder zu machen, was der sture Esel eben machen will.

ENDE

Nivo

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Marco Zander

übergibt mit zweifelhaften Gefühlen Worte. Auf marcozander.com, manchmal aber auch hier.